Samstag, 22. Mai 2010
Lieblingsserien (2): Lost ohne Ende

Nach sechs Jahren geht am kommenden Sonntag die wohl meistdiskutierte Serie über eine Gruppe Überlebender eines Flugzeugabsturzes auf einer seltsamen Insel zu Ende.




Und dann ist auf einmal alles vorbei. Das mit Fiebern, das hingehalten Werden, der Ärger, die Lust, die sprachlose Überwältigung und das manische Rätselraten.

Lange Zeit schien es, als würden die letzten beiden Folgen von Lost über das Schicksal der gesamten Serie entscheiden: Gelingt eine zufriedenstellende, angemessene Lösung – nicht unbedingt Auflösung! – dann wird die Serie als wohlmöglich beste aller Zeiten in die Annalen eingehen.
Bleibt die lang erwartete Erkenntnis aber aus oder wird ein unwahrscheinliches Konstrukt als ultimative Wahrheit verkauft, waren sechs Jahre vergebens.

Wer die Serie verfolgt hat, musste nach dem Ende der fünften Staffel Letzteres fürchten. Denn was die sechste Staffel bis jetzt – direkt vor dem Finale – leistet, schien eigentlich unmöglich. Lost emanzipiert sich von den selbst geschaffenen Rätseln, den profanen Untiefen des „Warum?“ und kreiert stattdessen einen Mythos, der nicht neu, aber aufgrund seiner fatalen Auswirkungen machtvoller als jeder Aufklärungswunsch ist.

Der unglaublich clevere Trick der Lost-Autoren besteht darin, diesen Mythos, die eigentliche Schöpfungsgeschichte der Serie, nicht chronologisch richtig an den Anfang zu stellen, als folgerichtige Bedingung für alle Handlung, sondern eben diesen Ausgangspunkt den Figuren und uns vorzuenthalten. Bis zum Schluss.

Stattdessen leiden wir gemeinsam mit ihnen. Fassungslos beobachten wir fünf Staffeln lang die wortwörtliche Auferstehung John Lockes, seine scheinbare Berufung und sein erbärmliches Ende. Wir staunen immer wieder über Kates Seiten- und Loyalitätswechsel und Sawyers Gerissenheit. Wir betrauern all die Toten, hoffen mit all den Liebenden und fürchten uns wie die Figuren vor den dunklen und bedrohlichen Orten des Dschungels. Doch am meisten suchen wir gemeinsam mit Jack nach einem Sinn und einem Ziel.

Bis sich immer mehr verdichtet, dass es egal ist. Es spielt keine Rolle, dass ausgerechnet Hurley, Kate, Jin, Sawyer oder Jack auf der Insel gelandet sind. Denn ihre – und unsere – Suche nach Sinn ist unwichtig, ihr Schicksal ist nicht bedeutsamer als das eines Baumes im Urwald angesichts der Geschichte dieser speziellen Insel. Lange bevor einer der Oceanic-Passagiere einen Fuß auf das mysteriöse Eilandsetzte, wurde auf ihr schon ein immerwährender Kampf zwischen Gut und Böse ausgetragen, und er wird es nach ihnen genauso. Wer in diese Schlacht hineingezogen wird, ist zweitrangig, letztlich sind alle Charaktere nichts weiter als Randfiguren, Kollateralschäden.

Aber wenn das Leben der Hauptfiguren einer Serie bedeutungslos wird, ist es dann nicht auch die Serie selbst? Nein, denn es ist gerade diese niederschmetternde Erkenntnis, die Lost aus der Breite der Fernsehserienlandschaft endgültig heraushebt, ein nahezu religiöses, gotteserfahrungsähnliches Erlebnis: Man hat das Gefühl, einen – immerhin sechs Jahre währenden – Ausschnitt etwas viel Größeren und Bedeutsameren erlebt zu haben, das gerade wegen seiner nicht erfassbaren Gesamtheit umso unglaublicher, verrückter und schöner wirkt. Lost und seine Figuren mögen ein Ende finden, doch die Insel bleibt.

Und wer noch nicht genug hat von abgeschlossenen Serien mit Langzeitwirkungen, dem sei Lieblingsserie 1 empfohlen: Twin Peaks

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