Sonntag, 6. Dezember 2009
2000 - 2009. Ein Jahrzehnt in...Alben.

Überall wird in den letzten Wochen Bilanz gezogen und über das ausgehende Jahrzehnt gerichtet. Da will auch tontraegerhoerer nicht fehlen und präsentiert hiermit Teil Eins seines Rückblicks.

(Achtung, dieser Beitrag ist umfangreich. Für alle eiligen und ungeduldigen Kinder des Internets findet sich eine einfache Liste der besten Alben am Ende des Artikels.)


Johannes Waechter, der umtriebige Musikblogschreiber der SZ, prophezeite kürzlich in einem Interview, man könne dem Album als Format „getrost das Totenglöcklein läuten“ bedingt durch die erhöhte Verfügbarkeit einzelner Songs in Zeiten von Itunes und Napster.
Gleichzeitig kündigen Bands wie Radiohead an, die zur Avantgarde der Vermarktung im digitalen Zeitalter zählen, vorerst keine Alben sondern nur Singles und EPs zu produzieren. Wird das Album also sterben?

Ehrlich gesagt ermüden die ständigen Apokalypse-Vorhersagen im Musikgeschäft. Ginge es nach all den Wahrsagern, müsste Vinyl längst ausgestorben sein, würden fast alle Künstler am Hungertuch nagen und bald verschwände auch noch die CD. Oh my God, they killed Kenny!

Doch wenn man einen Blick zurück wirft auf die letzten Jahre, vergeht einem schnell die Angst. Denn das erste Jahrzehnt dieses Jahrtausends hat vielfältigere, dichtere und mehr herausragende Alben hervorgebracht als die 90er Jahre.
Wer widersprechen will, die Kommentarfunktion findet sich unten. Und nein, Morning Glory und Nevermind sind keine großen Alben sondern Ereignisse. Oder will mir ernsthaft jemand erzählen, alle Songs dieser Alben super zu finden?

Und damit wäre ich auch schon bei meinem ersten Auswahlkriterium für die besten Alben der letzten zehn Jahre. Ich habe nur Werke in Betracht gezogen, bei denen ich nie das Bedürfnis hatte, einen Track zu überspringen. Darüber hinaus wollte ich nur Alben auswählen, mit denen ich ein Stück meiner Geschichte verbinde. Als drittes Kriterium habe ich mich dagegen entschieden, nach einem typischen 00er-Sound zu forschen und mir stattdessen zu überlegen, welche Alben noch nicht da Gewesenes (hier fallen The Strokes, Franz Ferdinand, The White Stripes und Konsorten raus) präsentieren und auch in fünfzig Jahren noch auftrumpfen können.

So, lange Vorrede, jetzt zum Sinn:

Schon 2000 erschien das Album des Jahrzehnts als eine Art Initialzündung für die Musik und für mich. Man tanzte in der Idiothek, war gleichzeitig optimistisch und wollte doch vollkommen verschwinden und nie gefunden werden. Man trötete die Nationalhymne und läutete die Morgenglocke. Alles war an seinem richtigen Platz auf Radioheads Wiedergeburt Kid A. Nach einem Jahrzehnt des Brit-, Gitarren-, Grunge-, Hard-, Metal- und Sonstwie-Rock, das Radiohead mit OK Computer selbst mitgeprägt hatten, wies die Band neue Wege.
Da existierten plötzlich Free Jazz- und Folksongs, Techno-Tracks und Gitarrenmonster, Harfenweisen und Elektrowaberwolken nicht nur friedlich nebeneinander, sondern ergänzten und erweiterten sich gegenseitig wie nie zuvor.


Das macht Kid A zur perfekten Metapher für die übrigen zehn spannendsten Alben der 00er Jahre:



Everything in its right place

Und auf einmal ist alles da, die Töne, der fließende Rhythmus, die Gelassenheit. In einer Wärme, die elektronische Musik eigentlich nicht erzeugen kann. Doch schon bei den ersten Momenten des Songs umgibt einen ein Kokon aus Geborgenheit. Dieses Gefühl schufen Lambchop 2002 auf Is a woman ein ganzes Album lang. Das Bandkollektiv um Kurt Wagner schien nach den unruhigen Vorgängern ausgeglichen und angekommen. Karl Bruckmaier, SZ-Musikkritiker, ließ sich sogar zu der Aussage hinreißen, dass Is a woman eines der besten Alben aller Zeiten sei, ein Gedanke, den man in zwanzig Jahren noch einmal aufgreifen müsste. Auf jeden Fall gab es mindestens seit Nick Drake kein so reduziertes und stimmiges Album, das doch immer noch eine Idee Soul und Country in sich trägt. Und die Gänsehaut bei Kurt Wagners Gebrummel gibt es umsonst obendrauf.


Kid A

Einer der seltsamsten Momente des Radiohead-Albums passt perfekt zum 2001 erschienenen ( ) von Sigur Rós. Verschwurbelte, an Spieluhren erinnernde Melodiefragmente, die plötzlich abheben und in ungekannten Sphären verschwinden. Klingt esoterisch? Ist es auch, denn Songs von Sigur Rós sind immer mehr als Musik. Wenn der Geigenbogen über Gitarrensaiten schwebt, entstehen Klänge, die eine dringliche Sehnsucht nach Weite und Ruhe in sich tragen. All das zelebrierten Sigur Rós 2001 – bevor sie auch lautere Facetten an sich entdeckten – auf dem Traumreise-Album ( ).


The National Anthem

Zwei Minuten, angetrieben von einem unwiderstehlichen Gitarren-Bass-Duett. Zwei Minuten, tanzbar gemacht von einem hypnotischen Schlagzeugrhythmus. Zwei Minuten, und dann eine Stimme, auf die man viel zu lange warten musste. Radioheads The National Anthem und Silence von Portishead, zwei Songs mit einem identischen Aufbau.


Doch während sich The National Anthem zu einer Free Jazz-Kakophonie mit Big Band entwickelt, läutet der Opener vom ersten Studioalbum seit elf Jahren der Bristoler Trip Hop- und Melancholie-Erfinder Portishead stringent eine neue Ära ein. Third brach mit allen Erwartungen - keine Samples und kein werbetauglicher Film Noir-Sound mehr – und übertraf sie. Eine unbeschreibliche Mischung verzerrter Saxophone (Magic Doors), fieser Machine Gun-Reminiszenzen, barbarischer Trommeln (We carry on) und über allem Beth Gibbons herzzerreißende Stimme machten aus Portishead eine andere, eine neue Band – und Third zum wohl gelungensten Comeback aller Zeiten.


How to disappear completely

Thom Yorke kann durch Wände gehen. Das überrascht nicht wirklich, aber die Vehemenz und Eindringlichkeit von How to disappear completely würden Sorgen um seine Verfassung bewirken, wäre da nicht die erlösende, letzte Minute des Songs.
Genauso ergeht es dem Hörer der Cover-Sammlungen American Recordings III und IV. Johnny Cash befindet sich immer schon mit einem Bein im Reich des Todes und zieht sich doch wieder selbst hinaus. Wenn man in Schönheit sterben kann, dann wohl so wie Johnny mit I see a darkness (im Duett mit dem Schreiber des Songs Bonnie „Prince“ Billy/Will Oldham) oder U2s One.


Johnny Cash starb am 12. September 2003, doch eins ist sicher:
We’ll meet again / Don’t know where / Don’t know when / But I know we’ll meet again / Some sunny day.


Treefingers

Beth Gibbons hat mit dem Bassisten der 80er-Helden Talk Talk ein Folk-Album aufgenommen, das so ruhig ist wie dieser Radiohead-Song. Das ist an sich nichts Besonderes und erst recht nichts Neues, Folk gibt es seit Jahrzehnten. Doch die Portishead-Chanteuse ist eine Göttin und deshalb ist Out of season von Beth Gibbons & Rustin Man eine Offenbarung. So einfach ist das manchmal.


Optimistic

Optimistic ist wohl der einzige Song dieser Zusammenschau, den man 1:1 auf ein anderes Album verfrachten könnte, genau zwischen Yellow und Trouble. Coldplays Debüt Parachutes klang so optimistisch, kraftvoll und doch einfühlsam, dass man glauben konnte, die Band hätte Britpop eben erst erfunden. Was allein schon der kurze, erste Song mit dem Hörer anstellt, ist zauberhaft und hat – zum Glück – noch nichts mit dem Stadionrock à la U2 von später zu tun. Everything’s not lost!


In Limbo

You’re living in a fantasy, ein Vorwurf, den man bestimmt auch von einem auf Englisch singenden Jochen Distelmeyer zu hören bekäme. Da Blumfeld jedoch eine deutsche Band mit fast ausschließlich deutschen Texten ist, klingt das auf Testament der Angst so: Ich seh die Leute in den Straßen / Die Diktatur der Angepassten / In den Städten und den Dörfern / Leben sie und ihre Lügen / Lügen, Lügen, Lügen.
Blumfeld holten aus zum ganz großen Wurf und Distelmeyer war so wütend wie schon lang nicht mehr. Doch die Band stellte nicht nur die Diktatur der Angepassten, Medien, Märkte, Merchandise und Egoismus an den Pranger, sondern komponierte nebenbei wundervolle Liebeslieder.
Mittlerweile sind Blumfeld aufgelöst und Jochen Distelmeyer macht Schlager, der den Namen verdient und empfehlenswert ist. Zum Glück hat die Band ihr Testament schon 2001 hinterlassen.


Idioteque

Während Radiohead in die düstere und verstörende Idioteque einluden und Zuhörer mit elektronischen Beats bombardierten, öffnete Madonna die Discothek-Pforten. Mithilfe des französischen Produzenten Mirwaïs fiepte, zirpte und brummte einem Music um die Ohren.
Kaum ein Dance-Track schafft es, selbst noch nach acht Jahren so aktuell zu klingen wie der Titelsong. Überhaupt war Madonna 2001 auf dem qualitativen Höhepunkt ihrer Karriere mit zwei bemerkenswerten Alben als Gesamtkunstwerke nacheinander, dem ätherischen, introvertierten Ray of Light und dem ausgelassenen Music. Und danach? Darüber schweigen wir lieber…


Morning Bell

Jetzt kommt tontraegerhoerer ein wenig ins Schwitzen, denn zum einen gibt es noch ein Album, das er gerne unterbringen würde, welches aber eigentlich zu keinem Song passt, und zum anderen klingt Morning Bell wie keine andere Band. Doch wenn man die Augen schließt und sich Thom Yorkes Stimme wegdenkt, dann liegt dem Song ein, nun ja, Drive zugrunde, der eine deutsche Band so unverwechselbar macht: Element of Crime.
Deren Album Romantik ist die Platte, die man mit dem/der Geliebten hören will - trotz aller Melancholie. Dabei sollte man dieses Band-Phänomen besser nicht beschreiben, weil man dazu entweder ganze Songtexte zitieren oder aber die Schönheit ihrer Musik zerreden muss. Hören!
Um noch einmal zum Radiohead-Vergleich zurückzukommen: Der einzige deutsche Sänger, der wie Thom Yorke in einem einzigen Song von parkenden Autos und in der Hälfte zu zerschneidenden Kindern singen könnte, wäre Sven Regener. Und da schließt sich der Kreis.


Motion Picture Soundtrack

Und zum Schluss ist alles egal, der Rotwein ist getrunken, die Engel spielen auf und wir sehen uns im nächsten Leben. Man munkelte, Thom Yorke sei dem Selbstmord nahe und habe mit Kid A sein Vermächtnis hinterlassen, den Motion Picture Soundtrack seines Lebens. All das stellte sich zum Glück als übliche Musikpresse-spekulationen heraus, doch wenn der Radiohead-Sänger zu den Schlaftabletten gegriffen hätte, wäre nur ein einziger Engel in Frage gekommen, die Harfe auf dem Weg ins nächste Leben zu spielen.
Was Joanna Newsom im zarten Alter von 24 Jahren aus dem Hut zauberte, ist ein Meisterwerk. Ys besteht aus fünf Stücken, denn Songs kann man diese kleinen Symphonien nicht mehr nennen. Arrangiert von der Legende Van Dyke Parks, der schon für das Beach Boys-Meisterwerk Pet Sounds komponierte, fesselten die komplexen, teils mehr als fünfzehn Minuten langen Stücke selbst Drei-Minuten-Songs-Anhänger.





Und nun…Stille. Und die Hoffnung, dass die nächsten zehn Jahre ähnlich vielfältig werden.

Und hier noch einmal zur Übersicht:

2000-2009, 10 + 1

Radiohead Kid A (2000)
Lambchop Is a woman (2002)
Sigur Rós ( ) (2001)
Portishead Third (2008)
Johnny Cash American Recordings III (2000)
Beth Gibbons & Rustin Man Out of season (2002)
Coldplay Parachutes (2000)
Blumfeld Testament der Angst (2001)
Madonna Music (2001)
Element of Crime Romantik (2001)
Joanna Newsom Ys (2006)


Und hier bei Endgültig findet ihr den Aufruf, selbst die besten Alben der vergangenen zehn Jahre zu wählen!

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sehr interessant und krass, dass fast alle Alben von vor 2002 sind.

Bei endgueltig.com läuft zu dem Theme gerade eine Blogparade. Du könntest deinen Beitrag dort verlinken.

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