Sonntag, 27. September 2009
Bundestagswahl 2009: Das alte neue Schreckgespenst?

Deutschland – zumindest drei Viertel der deutschen Bevölkerung – hat gewählt und tontraegerhoerer erinnert sich an seine ersten Erfahrungen mit Schwarz-Gelb.

Helmut Kohl wurde von Gerhard Schröder in Rente geschickt, als ich 14 Jahre alt war. Bis dahin hatte Politik für mich nicht viel mit Parteien zu tun, Bundestagswahlen habe ich vor allem als Wiederholungen in Erinnerung: Der Wahlkampf dauert 90 Tage und am Ende heißt der Bundeskanzler Helmut Kohl.
1998 war dann plötzlich Gerhard Schröder da und auf einmal spielten andere Parteien eine Rolle und vor allem ein anderer Stil. Rot und grün, die Farben der Liebe und der Hoffnung, wirkten gleich auch viel liebe- und hoffnungsvoller. Und schillernder: Gerhard Schröder mit Zigarre im Brioni-Anzug, ein ehemaliger Turnschuhrebell im Außenministerium und eine Kanzler-WG – Glanz, Glamour und Alt-68er-Charme erhielten Einzug in die Bonner und später in die Berliner Politik. Das wurde gerade Schröder immer wieder vorgehalten, doch mein Interesse für Politik war geweckt.

©dpa

Wenn ich heute nostalgisch zurückblicke, dann hatte der Start des rot-grünen Projekts etwas von den amerikanischen Change-Gefühlen im letzten Jahr: Der am Ziel angekommene Zaunrüttler brachte schon 1998 einen Hauch Obama-Manie. Schwarz-Gelb blieb für mich eine verschwommene, immer weiter verblassende Erinnerung, seltsam konturlos, aber keinesfalls gefährlich.

Elf Jahre später ist Gerhard Schröder vom kleinen Obama zum kleinen Putin mutiert, Joschka Fischer vergnügt sich mit seiner fünften Ehefrau und das hässliche Berliner Kanzleramt wird von einer blassen, technokratischen Kanzlerin bewohnt, während der neue CSU-Superstar im AC/DC-Coverband-Shirt die Bierzelte – nun ja – rockt. Rot-Grün hat schon lange keine Machtoption mehr, heute Abend würde es nicht einmal für eine Mehrheit mit der Linkspartei reichen. Und mit Schwarz-Gelb regiert plötzlich ein leibhaftiges Stil-Schreckgespenst.

Doch heute geht es mir nicht mehr um den Präsentationsstil, die Anzugmarke oder die 68er-Vergangenheit der Regierungsmitglieder. Das Grausen wohnt für mich heute in einem Sprachstil, der dieses Land teilt.
In ein „bürgerliches Lager“ und – ja, was eigentlich?
In Leistungsträger (das sind die, die Lohnsteuer zahlen) und Nichtleistungsträger (also im Umkehrschluss die, die keine Arbeit haben, oder die für harte Arbeit so wenig Geld bekommen, dass sie keine Lohnsteuer zahlen müssen).

©diepresse.com

In Zeiten wirtschaftlicher Rezession, steigender Arbeits- und damit auch Mutlosigkeit mögen Manche unternehmerfreundliche Wirtschaftspolitik für das Nonplusultra halten, was ich nicht bestreiten und nicht bestätigen will. Doch – auch wenn die FDP das glaubt - Wirtschaftswachstum ist nicht das Wundermittel zur Lösung aller Schwierigkeiten. Das nachhaltigste und sich immer weiter verfestigende Problem fußt auf dem wachsenden Gefühl der Ungerechtigkeit:
Managergehälter, die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich, der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildung, all das sind nur Schlagwörter für dieselbe Ahnung einer Systemschwäche.

Sollte die neue Regierungskoalition ihrer ausgrenzenden Rhetorik treu bleiben, werde ich diese schwarz-gelben Jahre deutlicher in Erinnerung behalten. Und sicherlich nicht positiv.

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Fragen über Fragen
"Und sicherlich nicht positiv." Das ist auch meine Ansicht in der Rück- und Vorschau bei dieser Wahl. Wieso wählen Bürger eine Partei, die keine Mindestlöhne fordert, wo die Bürger doch über sinkende Löhne und 1-Euro-Jobs lamentieren? Wieso wählen gerade junge Leute (wie die Umfrage bei StudiVz zeigte) eine Partei, welche Studiengebühren befüwortet? Wieso wählen die Deutschen, die sich in den Medien über schlechte Integrationspolitik beschweren, eine Partei, welche am dreigliedrigen Schulsystem festhalten will, das laut OECD Schuld an der Bildungsmiserie ist? Warum wählt man die christlich demokratische Union in einem Land, in dem bei weitem nicht nur Christen wohnen?
Vielleicht ist das rote Schreckgespenst der Schröderegierung noch immer nicht davon geflogen und es hingen nicht genug Anti-Schwarz-Gelbe- Wahlplakate? Vielleicht leben wir aber auch nur in einem konservativem, leistungsorientiertem und egozentrischem Land. Die Hauptfrage bleibt: Wer ist da wählen gegangen, oder wer auch nicht?

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...und noch mehr Fragen.
Ganz so einfach kann man es sich aber nicht machen, fridaunddiefragen.

Wen ich komplett anderer Meinung wie du wäre (!), könnte ich zum Beispiel fragen:
Welche jungen Menschen wählen eine SPD-Partei, die das Zensurgesetz aktiv unterstützt hat? Wer von uns wählt eine Partei, die einen sofortigen Atomausstieg fordert, was nachweislich einen Strompreisanstieg auf etwa 1 € pro kwh (von derzeit ~19cent) mit sich führen würde? (Für mich als Student die Horrorvorstellung)
Welche Menschen wählen so weit links, dass sie vergessen, was sich noch vor 20 Jahren im Osten unserer Republik getan hat? Wer wählt Gysi, einen Mann der Staatssicherheit (!)?
Wer wählt Parteien, die sich für einen Türkei-Beitritt in der EU stark machen, obwohl (nach reichlicher Lektüre!) so ziemlich alles außerhalb der gesunden Integration dagegen spricht?

Es ist nicht mehr so schwarz-weiß, wie das vielleicht noch in den 90igern war. So wie ich es beurteile haben alle Parteien (die Linke mal außen vor) positive und negative Ansätze. Und jeder muss dann für sich entscheiden, was letztlich am besten für ihn zusammen passt. Das keine gewählte Partei alle meine Wünsche und Anregungen aufnehmen kann, ist letztlich klar! Um bei einem Beispiel von dir zu bleiben: Studiengebühren - Ich bin gegen Studiengebühren, aber wenn dies in unserem Land nicht mehr tragbar ist (und das sollten Politiker letztlich besser beurteilen können als ich und du), dann muss man über diese Option nachdenken. Und in diesem Falle zahle ich lieber etwas mehr Gebühren für mein Studium und habe erstklassige Bedingungen (zB USA), als den umgekehrten Fall.

Ich lasse mich nun mal überraschen, was die neue Regierung bringt - und bin jedenfalls mehr als froh, dass keine rot-rote Regierung zustande kam.

@tontragerhoerer: wie immer guter Beitrag ;)

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Die Qual der Wahl...
.... hat man nun leider in unserem Land. Und eine Partei zu finden, welche 100% mit allen Einstellungen übereinstimmt, ist wohl kaum möglich. Von daher heißt es abzuwägen.

Du hast Recht hulza, wenn du sagst, dass ein sofortiger Ausstieg aus der Atomenergie ein finanzielles Desaster bedeutete. Aber deshalb wähle ich dennoch keine Partei, welche diesen Ausstieg ohne konkrete Pläne anvisiert. Sich nicht einmal um eine Eedlagerlösung zu bemühen scheint. Ebenso kann ich es nicht befürwortet, dass die Türkei mit ihren mangelhaften Menschenrechten den vollen Beitritt zur EU erhält. Jedoch will ich die Ausländerfeindlichkeit nicht unterstützen, indem ich Einwandern das kommunale Wahlrecht verweigere.

Es ist nicht mehr schwarz-weiß. Dennoch frage ich dich, wieso sind links-Wähler stets über einen Kamm zu scheren? Glaubst du tatsächlich, dass "im Osten" alles schlecht war? Es gab starke Freiheitsbeschränkungen, Kontrollen, Arbeitszuweisungen etc. Aber es gab dem entgegen z.B. Krippen- und Kindergarteplätze, in denen gut ausgebildetet, studierte Pädagogen die Kinder erzogen. Die Linke sind nicht mehr die SED oder PDS sodern eine Partei, welche sich mit dem heutigen Sozialismus befasst.

Studiengebühren sind wohl eine Frage der Ansicht. Immerhin ist es in den USA ja geläufig mit 100.000 Dollar Schulden in die Arbeitswelt zu starten, da ein Semester an einer guten Uni um die 20.000 Dollar kostet.

Es ist immer eine Frage dessen, was einem im Moment am Wichtigsten ist. Und wenn Wähler die Ansichten der CDU teilen, so sollen sie sie wähen. Dafür gibt es die Demokratie. Ich werde mich auch weiterhin für die Werte stark machen, die mir wichtig sind und hoffen, dass von Schwarz-Gelb nicht nur die Besser-Gestellten dieses Landes profitieren.

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Türkei und Stasi
Obwohl ich in meinem Beitrag explizit versucht habe, zu konkreten, politische Fragen keine Stellung zu beziehen, da es mir vor allem um Gefühle und nicht um Fakten ging, möchte ich jetzt auch etwas zu den in den Kommentare erwähnten Problemen sagen.

Ein EU-Beitritt der Türkei im Moment wäre katastrophal, weshalb das auch keine Partei ernsthaft fordert. Doch darüber hinaus muss man sich die Frage stellen, ob die Türkei langfristig als Nation zwischen Europa und Nahem Osten nicht einen großen Beitrag zur Annäherung und - ja, sogar das - zum Weltfrieden leisten könnte - und zwar als EU-Mitglied.

Zu recht kann man Fragen, wieso man der Türkei in ihrem jetzigen Zustand Beitrittsverhandlungen in Aussicht stellen sollte. Ich finde allerdings, dass gerade dadurch der Türkei ein großer Anreiz gegeben würde, Menschenrechte, Gleichberechtigung und (besonders religiöse) Toleranz zu fördern und durchzusetzen. Ich betrachte das ganze als eine Art Erziehungsfrage und war schon immer der Meinung, dass positive Bestärkung mehr bringt als konfrontative Ausschließung.

Zum Thema Parteien und Stasi: Da kommt mir in letzter Zeit immer öfter das kalte Kotzen. Natürlich hat die Linke eine äußerst problematische Vergangenheit. Doch besonders CDU und FDP tun so, als wären sie geeignet, in diesem Fall moralisch urteilen, obwohl sie alles andere als dafür geeignet sind. Die SPD verweigerte Anfang der 90er Jahre den linken Überresten der DDR-Parteienlandschaft die Auf- bzw. Übernahme, weshalb die PDS erst entstanden ist. CDU und FDP einverleibten sich die Block-CDU und die Block-Liberalen ohne große Debatten. Während die SPD sich im Osten eine völlig neue Struktur aufbauen musste, profitierten CDU und FDP von übernommenen Geschäftsstellen und teilweise übernommenem Parteivermögen. Doch danach pfeift heute kein Schwein mehr, genauso wenig wie nach den Stasi-Kontakten des heute wiedergewählten CDU-Ministerpräsidenten Tillich.

Zu diesem Thema äußerst sehenswert:

Eine Rede von Edgar Moron (SPD) im Landtag von NRW

Der Mann hat vielleicht nicht mit allem recht, doch ich kann seine Erregung mehr als nachvollziehen und bin immer wieder gerührt, wenn ich die erste Hälfte dieser Rede sehe.

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hehe, die Rede ist gut, der Mann gefällt mir. Da sieht man wenigstens, dass einer mit "Herzblut" dabei ist.

eins aber noch: Selbst wenn wir die Vergangenheit der Linken außen vor lassen, bleiben sie für mich als Partei unwählbar: Alles an dieser Partei ist schrecklich populistisch, beim "Reichtumg für alle" angefangen bis zum "Reichtum besteuern" - wie herrlich sich das selbst gegenübersteht, merken vermutlich noch nicht mal die Parteioberen... Und daher finde ich es gut, dass die Linken nicht wie bei tvtotal 20% bekommen... ,)

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Da wiederum kann ich dir nur recht geben, es gibt mehr als genug Gründe, nicht die Linke zu wählen. Aber was den Vergangenheitsteil angeht, darf man dann nicht mehr viele Parteien wählen ;)

Bei den Plakaten frag ich mich ja immer noch, ob ich Gysi glauben sollen, dass er sie schon beim Drucken so witzig fand...

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