Dienstag, 8. Juni 2010
Berliner Chaostage

tontraegerhoerer ist immer noch ein wenig irritiert von den zurückliegenden Wochen des politischen Lebens und versucht ein sicherlich vorzeitiges Resümee.

Hätte sich ein Drehbuchautor die letzten Wochen ausgedacht und einer Produktionsfirma als Politthriller angeboten, wäre der zuständige Produzent vor Lachen wohl vom Stuhl gefallen, hätte das Skript nach zwei Seiten zerrissen und in den Papierkorb befördert. Eine sechs Monate lang als wahnwitzig beschriebene und dennoch stur eingehaltene Taktik des Nichtstuns, die Wahlerfolge ermöglichen soll, führt zu katastrophalen Verlusten in Nordrhein-Westfalen. Ein machthungriger, polarisierender Ministerpräsident schwört der Politik ebenso ab wie ein bescheidener, populärer Bundespräsident. Zwei sehr unterschiedliche Kandidaten werden aus den gleichen machtpolitischen Gründen gekürt, großkoalitionäre Schreckgespenster wehen umher, Gesundheitspolitiker werden zu Wildsäuen und Freibier für alle gibt es auch nicht mehr. Und das alles innerhalb eines Monats.

Was derzeit in der politischen Landschaft passiert, ist überraschend, besorgniserregend und unheimlich spannend. Selten gab es eine Zeit, in der sich die Ereignisse – größtenteils völlig unabhängig voneinander - dermaßen überstürzten wie in den letzten Wochen. Welche Auswirkungen sie haben, zeichnet sich nun langsam ab:


CDU/CSU

Horst Seehofer müsste sich eigentlich den ganzen Tag lang die Hände reiben. Nachdem er in den letzten Jahren mehrfach als Störenfried abgekanzelt und von Granden der CDU und Angela Merkel zurechtgewiesen wurde wie ein unartiger Schuljunge, ist seine Machtposition momentan sehr gefestigt. Die Kanzlerin ist viel zu beschäftigt, die eigene Koalition nicht auseinanderbrechen zu lassen und die politischen Größen der CDU…? Die haben sich größtenteils freiwillig verabschiedet: „Arbeiterfürst“ Jürgen Rüttgers wurde von den Wählerinnen und Wählern auf ein erträgliches Normalmaß gestutzt, Roland Koch ist oft genug an Merkel gescheitert und taucht ab in die freie Wirtschaft und Christian Wulff wird entweder Bundespräsident oder darf seine politische Karriere an den Nagel hängen. Und all die Pofallas, Röttgens, Schäubles und von der Leyens muss Seehofer nicht fürchten, werden sie innerhalb der Partei doch nur als Lautsprecher Merkels angesehen.
Das Machtvakuum, dass sich innerhalb der CDU um Angela Merkel herum gebildet hat, lässt die CSU wieder in alter Größe erstrahlen, für den Moment zumindest.

Die CDU-Vorsitzende mag zwar durch die endgültige Niederlage des Anden-Paktes rund um Koch, Wulff und Konsorten vordergründig gestärkt sein, doch ein wesentliches Problem ihrer Politik vergrößert sich damit enorm. Wer in Zukunft Merkels Politik neben der ja recht schweigsamen Kanzlerin innerhalb der CDU und den Bürgern erklären soll, bleibt offen. Solange Lieberknecht, Bouffier, Mappus oder McAllister Namen ohne Gesichter und Programme bleiben, bleibt auch die CDU plötzlich ziemlich kopflos. Merkel wird ein riskantes Spiel spielen müssen und alles auf eine Karte setzen müssen: Angela Merkel. Wenn es funktioniert, wird sie wohl in eine Liga mit Helmut Kohl aufsteigen. Doch jede noch so kleine Niederlage wird von nun an mit ihr in Verbindung gebracht werden.


Die Regierung

„Freibier für alle macht beliebt, aber dann fährt der Karren vor die Wand.“ Mit dieser Äußerung kündigte Guido Westerwelle in bester Generalsekretärsmanier die bevorstehenden Sparmaßnahmen an und als mündiger Bürger atmet man durch. Endlich hat diese Regierung einen gemeinsamen Programmpunkt gefunden. Da übersieht man gerne, dass sich Teile der Koalition im Zuge des Streits um die Gesundheitsreform gegenseitig als „Wildsau“ bezeichnen. Jetzt soll also gespart werden. Das war eigentlich jedem schon seit der letzten Bundestagswahl klar, bis auf die FDP, die viel zu lange an das Wunder von Steuersenkungen glaubte. Stattdessen gibt es jetzt eine Art Kerosin-Steuer. Und die Finanztransaktions-usw.-Steuer, die selbst die meisten Politiker nicht richtig verstehen. Und eine Brennelemente-Steuer, was wohl ein cleverer Schachzug sein soll. Denn plötzlich geht es in der Laufzeitverlängerungsdiskussion für Atomkraftwerke nicht mehr darum, ob die Reaktoren sicher und geeignet dafür sind. Jetzt ist die Verlängerung eine Frage des nationalen Interesses aller Bürger, um wirtschaftlich zu überleben. Denn ohne längere Laufzeiten gibt es auch keine zusätzlichen Steuereinnahmen, und dann müsste die Koalition noch mehr bei den sogenannten „kleinen“ Bürgerinnen und Bürgern sparen. Eine Vermögenssteuer oder Anhebung des Spitzensteuersatzes steht natürlich außer Frage. Atomkraft für gesicherte Hartz IV-Sätze, da sind die paar Störfälle und Risiken doch wirklich absolut nebensächlich und auf die in Auftrag gegebenen Gutachten muss man auch nicht mehr warten. Es geht schließlich um Geld.

Doch bevor die Koalition sich allzu sehr über die gemeinsamen Anstrengungen freut, gilt es noch bis zum 30. Juni zu zittern. Die sichere Mehrheit in der Bundesversammlung wackelt in den letzten Tagen mehr, als der Regierung lieb sein kann. Die Nominierung Christian Wulffs war ein parteitaktisch kluger Vorgang, der einen nicht zu regierungskritischen Bundespräsidenten ins Amt bringen dürfte, das dieser wohl nicht so leicht vorzeitig verlassen würde. Doch die Aufstellung von Joachim Gauck durch SPD und Grüne war eine parteitaktisch betrachtete noch bessere Idee. So hat die Opposition nicht nur den besseren Kandidaten, sondern auch die moralische Haltung der meisten Bürger hinter sich: Ein parteiübergreifender Bundespräsident entspricht dem Wunsch der Mehrheit nach einem Ende politischer Machtspielchen.


SPD

Sigmar Gabriel wird im Moment wohl einen sehr ruhigen Schlaf haben. Hannelore Kraft erweist sich in Nordrhein-Westfalen als kluge, integere, inhaltlich argumentierende Politikerin, als Anti-Ypsilanti. Joachim Gauck übertrifft schon jetzt alle Erwartungen und Schwarz-Gelb zerfleischt sich selbst ohne jedes Eingreifen der Opposition. Das Schlimmste, was der SPD jetzt passieren könnte, wären vorzeitige Neuwahlen. Denn noch hat sich die arg gebeutelte Partei bei weitem nicht erholt von der eklatanten Niederlage im letzten Jahr. Das Durcheinander der Regierungskoalition ermöglicht ihr einen Erneuerungsprozess abseits medialer Dauerbeobachtung, und momentan sieht es so aus, als würde Gabriel diese Gelegenheit nutzen. Wann und ob die SPD jedoch je wieder in der Lage sein wird, Wahlen aus eigener Kraft zu gewinnen, bleibt weiterhin unsicher.


Die Presse

Der größte Profiteur der vergangenen Wochen dürften wohl „die Medien“ sein. Selten war die Nachrichtenlage in der Innenpolitik dermaßen vielfältig und dicht. Für Journalistinnen und Journalisten wäre es geradezu wünschenswert, dass Christian Wulff die Wahl zum Bundespräsidenten Ende Juni verliert. Das wäre nicht nur die nächste nachrichtliche Sensation, denn das Ende der Regierung wäre wohl damit definitiv eingeleitet und die Kommentarspalten wären für Monate gefüllt.


Roland Koch und Horst Köhler

Die beiden Zurückgetretenen haben trotz gemischten bzw. entsetzten Reaktionen einen enormen Vorteil: Sie haben sich selbst von jeglichem Druck befreit und können nun dem äußerst regen, machtpolitischen Spiel der großen Parteien gelassen zusehen. Ein Luxus, den die meisten Bürgerinnen und Bürger wohl längst nicht mehr teilen.

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