Donnerstag, 13. Mai 2010
Gut' Ding will Weile haben.

Das trifft auf Joanna Newsoms neues, opulent auf drei CDs/LPs verteiltes Album Have One On Me definitiv zu. Eine Kritik in vier Szenen über Erwartungen, frühe Enttäuschungen und späte Triumphe.



Erste Szene: Und dann liegt die schwarze, lang erwartete Schachtel vor einem. Have One On Me, da will man gleich sein Glas erheben und anstoßen auf das Design, bevor man auch nur einen Ton gehört hat. Ungekannt lasziv räkelt sich Joanna Newsom in orientalisch angehauchter Atmosphäre, und geht dennoch fast im Chaos des Interieurs unter.

Ist das das Album des Jahres? Vielleicht gar das wegweisende Album für das noch junge Jahrzehnt? Erhebt man nicht automatisch solche Ansprüche, wenn man vier Jahre nach einem Konsensmeisterwerk mit einem Dreifachalbum zurückkehrt? Es gibt wohl nur einen Weg, das herauszufinden: Aufklappen, herausholen, einlegen, zurücklehnen. Hören.

Und die erste Enttäuschung erleben: Einiges erkennt man wieder, manches zieht einen sofort in seinen Bann, aber wirkliche Innovation? Nein, das ist kein Meisterwerk.


Zweite Szene, Rückblende: 2004 tauchte wie aus dem Nichts eine junge Frau mit langen Haaren, altertümlich wirkendem Kleidungsstil und einem der ungewöhnlichsten Instrumente der Popmusik auf, einer Harfe. Es dauerte wahrscheinlich keine fünf Sekunden, bis irgendjemand Feen, Elfen oder sonstige Fabel- und Götterwesen ins Spiel brachte, um die Newcomerin Joanna Newsom zu beschreiben. Und tatsächlich schien ihre Stimme manchmal nicht von dieser Welt, im nächsten Moment jedoch wieder sehr irdisch zu sein, Marke „Babygequengel“. Und natürlich bezauberten einige Songs ihres ersten Albums The Milk-Eyed Mender, wie es von einer Freak Folk-Elfe erwartet wurde. Willkommen in der CocoRosie/Final Fantasy-Schublade.

Wie unrecht man der Künstlerin mit diesem Etikett getan hatte, demonstrierte Newsom mit ihrem zweiten Album Ys, das nur zwei Jahre später monolithisch aus dem Rest der Veröffentlichungen in dieser Zeit ragte. Fünf Kompositionen in über einer Stunde Laufzeit, die das kleine Wort „Song“ nicht mehr erfassen konnte, erzählten Geschichten einer Dichte und Poesie, wie man sie nur selten findet. So wunderte es nicht, dass der berüchtigte Van Dyke Parks die Stücke pointiert arrangierte, ohne auch nur einen Gedanken an so fürchterliche Begriffe wie „Orchester-Pop“ oder Phil Spectors Wall of Sound, mit der er unter anderem Let It Be der Beatles verhunzt hatte, hervorzurufen. Das hier war größer, funkelnder, verführerischer. Das hier war für die Ewigkeit. Das hier ließ die bloße Ankündigung eines dritten, eines Dreifachalbums wie einen Lottogewinn erscheinen. Aber kann man ein Meisterwerk toppen?


Dritte Szene: Seit fast drei Monaten liegt Have one on me nun im CD-Spieler, auf PC und Ipod. Drei Monate lang wanderte ein Rezensionsanfang nach dem anderen in den realen oder virtuellen Papierkorb, weil die Zeit noch nicht reif, das Album nicht einmal umrisshaft begriffen war. Erst jetzt hat man die meisten Songs erfasst und manchmal verstanden.

Have one on me ist atemberaubend, betörend schön und offensichtlich – zumindest immer noch nach drei Monaten – unergründlich. Es ist, man halte sich fest, funky. Und es ist vertraut, denn natürlich gibt es wieder die ausufernden, Volten schlagenden Stücke wie auf Ys, dieses Mal aber gemischt mit knackigen Songs und eigenwilligen Liedern. Was neu ist, abgesehen von The Book of Right-On vom ersten Album, sind die Hits. Good Intentions Paving Company ist so einer und erwischt einen gleich beim ersten Hören, mit dem Piano als Bassersatz, den irritierend wechselnden Percussions und einer Posaune, die Jericho wohl wieder instand gesetzt hätte. Und dann hat man noch nicht einmal auf den Text gehört.

Auch Soft As Chalk gehört in diese Kategorie, entwickelt sich scheinbar langsam, doch der Blues ist schon in der ersten Note hörbar. Spätestens wenn nach über einer Minute das Schlagzeug „ausbricht“, wird deutlich, wohin der Weg geht: Joanna Newsom kann tatsächlich auch Popmusik.


Was könnte man nicht noch alles schreiben, von Geschichten über eine Königsmätresse, Synkopen, Tempiwechsel und Clous und Kniffe in nur einem Song, mit denen manch anderer ganze Alben bestreiten würde. Und das ist wohl letztlich die Quintessenz ihres Schaffens: Joanna Newsom ist so voll von Ideen, dass sie nicht wie andere Künstlerinnen und Künstler aus einer guten Idee einen guten oder grandiosen Song macht. In beinahe jedem ihrer Songs stecken Melodien und Ideen, aus denen sich mehrere eigenständige komponieren lassen würden. Doch zum Glück belässt Newsom es dabei, ihre gewaltige Kreativität zur Verfeinerung und nicht zur Ausschlachtung zu verwenden, ein Album mit 20 CDs voller immer noch hörenswerter Lieder wäre wohl auch kaum bezahlbar.


Vierte Szene: Ist Have one on me ein Meisterwerk? Ja. Ist es besser als Ys? Nein, es ist anders. Was für ein Glück.

Hier geht's zu einem faszinierenden Live-Mitschnitt von Joanna Newsoms Soft As Chalk

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