Samstag, 6. Februar 2010
Deutschland, deine Casting-Shows...

Was wurde nicht schon Alles gecastet in Deutschland: Popstars, Superstars, Topmodels, Schwiegertöchter, Bauernfrauen, Schauspieler und Nachwuchspolitiker. All diese Formate haben dabei vergessen, einen Kandidaten mitzucasten: Die Qualität. Das zu ändern hat Stefan Raab, der neue alte Held von Pro7/ARD, versucht.

Es mutet wie eine absichtlich herbeigeführte Versuchsreihe an: Seit letztem Dienstag wird unser Star für Oslo ermittelt, mittwochs sucht Deutschland den Superstar und donnerstags werden die Reste von Heidi Klums Germany’s Next Topmodel verwertet in der Model-WG. Das schreit geradezu nach einem Vergleich.

Peyman Amin, der Moderator, Dominator und Inquisitor der Model-WG, ist angeblich ein guter Model-Scout und –Agent. Wenn man diese Behauptung so hinnimmt, wie sie der freundliche Pro7-Sprecher aus dem Off aufstellt, zeichnet sich Amin nur durch ein anderes, großes Manko aus. Als Chef der Show kennt er nur zwei Äußerungsformen: Vorwürfe und uneingeschränktes Lob, wobei erstere weitestgehend vorherrschen.
Natürlich gehören kindische Regeln zu solchen Formaten der Sensationsgierbefriedigung, doch beerdigt man mit ihnen gleichzeitig die Qualität. Wenn für die Zuschauer interessanter zu sein scheint, wie sich die „Models“ beim Küche Putzen oder Sport rumschlagen, Begegnungen mit echten Modelagenturchefs jedoch in kürzester Zeit abgehandelt werden, könnte man aus der Model-WG genauso gut eine Popstars-WG machen, die ja sonst zur gleichen Zeit streiten und heulen dürfen.
Von der Modewelt erfährt man hier wenig, von der sozialen bzw. asozialen Dynamik in einer reinen, perfide zusammengestellten Mädchen-WG dafür umso mehr. Mehr als man wissen will. Nicht umsonst lädt die eigene Model-WG-Community mit folgender Zeile zur Teilnahme ein: „Du möchtest mit anderen Model-WG-Fans reden und lästern?“

Wie angenehm dagegen, dass Deutschland sucht den Superstar (DSDS) dagegen das Privatleben der Castingteilnehmer meistens außen vor lässt. Damit wären auch schon alle positiven Aspekte dieser oftmals menschenverachtenden Sendung erwähnt.
DSDS zeigt die hässliche Fratze der Quotenmaximierung durch moralfreie Behandlung nicht in Dieter Bohlens Sprüchen, die nur noch selten die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten. Wesentlich bedenklicher sind die nachträglichen Einspielungen von Grafiken und Tönen, die das sozial auffällige Verhalten einiger Castingabsolventen in beleidigender und würdeloser Weise untermalen und verstärken.
Natürlich gibt es Menschen, die sich peinlich verhalten und die – warum auch immer - bereit sind, sich vor einem Millionenpublikum freiwillig zu blamieren. Ob ein Sender wie RTL das allerdings derart ausbeuten muss, halte ich für äußerst fragwürdig.
Natürlich muss man dieses Format als zeittypisches betrachten, schließlich interessiert die meisten Menschen auch nicht, welche schauspielerischen bzw. musikalischen Talente Lindsay Lohan, Amy Winehouse oder Britney Spears haben. Und so erfährt man selbst in den Recalls von DSDS mehr über vergessene Texte, eventuelle Affären und durchfeierte Nächte als über Musik. Ab und zu gibt es übrigens auch die ein oder andere gute Stimme, die Lieder recht ordentlich nachsingen kann. Mit Musik hat das allerdings immer noch sehr wenig zu tun.

Und dann kommt er. Stefan Raab hat keine grandiose Stimme und sieht wahrlich nicht wie ein Superstar aus. Doch dieser Mann hat oft genug bewiesen, dass er nicht nur ein grandioser Entertainer ist, der schon oft abgeschrieben wurde und immer wieder aufs Neue überzeugte – man denke nur an Schlag den Raab. Raab ist auch, und vielleicht sogar von Herzen vor allem Musiker. Und auch er beteiligt sich ein weiteres Mal am Geschäft der Casting-Shows.
Unser Star für Oslo, die Sendung, in der der deutsche Teilnehmer für den Eurovision Song Contest (ehemals der Eurovision de la chanson) ermittelt werden soll, ist die erste Kooperation zwischen einem Privat- und einem öffentlich-rechtlichen Sender. Dadurch schon ein Experiment an sich, legte Raab die Latte vorab noch höher, ein qualitativ hochwertiges Format solle diese Show sein.
Doch zuerst stellte sich Ernüchterung ein. In seiner Latenight-Show TV Total wurden die Teilnehmer an den Castings genauso vorgeführt wie man es aus allen anderen Formaten auch kennt: Die vorgeblich witzigsten, also peinlichsten Auftritte wurden breit getreten. Umso größer war dann jedoch die Überraschung bei der Präsentation der ersten zehn von zwanzig Kandidaten für die Finalrunden.
Tatsächlich war es Raab gelungen, eine abwechslungsreiche, talentierte und vor allem individuelle Gruppe von jungen Sängerinnen und Sängern zusammenzustellen. Die beherrschten Bühne und Band nicht in vorher ausgeklügelten Choreographien sondern auf natürliche Art und Weise. Auch die ausgewählten Songs entsprachen nicht den gängigen Hit-Rezepten und Zeitzwängen: Weniger erfolgreiche Songs von Robbie Williams und Michael Bublé sowie neue Versionen von Klassikern wie Hotel California beeindruckten durch einen wirklich feststellbaren eigenen Stil der Interpreten.
Zum ersten Mal musste man als Zuschauer aufmerken, als die an ein braves, blondes Blumenmädchen mit Flechtfrisur erinnernde Kerstin Freking den Hit der Düsterrocker Evanescence My Immortal zum Besten gab.
Endgültig beeindruckte aber der Auftritt der 18jährigen und damit jüngsten Teilnehmerin Lena Meyer-Landrut. Ihre Darbietung von Adeles My Same hinterließ eine sprachlose Jury, ein begeistertes Publikum und veranlasste sogar den SZ-Fernsehkritiker Hans Hoff zu ungewohnten Jubelarien, der Lena schon als Gewinnerin der Sendung ausmachte.



Lena Meyer-Landrut - Unser Star für Oslo von Clipfish


All die Eigenschaften, die man sich in allen anderen Sendungen immer von den Kandidaten wünscht und nie bekommt wie Unangepasstheit, Einzigartigkeit und Frische zeigt Lena in wenigen Minuten und freut sich dann auch noch „hart“.
Mit ihr und auch den anderen Teilnehmern hat Stefan Raab es tatsächlich geschafft, das Format der Casting-Shows in Deutschland auf ein neues Niveau zu heben. Es wurde Zeit…

Unbedingt gucken: Unser Star für Oslo, nächsten Dienstag um 20:15 Uhr auf Pro7.

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