Mittwoch, 3. Februar 2010
Weihnachten und Ostern: Musik im Januar
tontraegerhoerer, 18:52h
Als würden Weihnachten und Ostern in einen Monat fallen: Der Januar hat voll zugeschlagen und ein verspätetes Feuerwerk an erwähnenswerten bis herausragenden Alben gezündet.
Beginnen wir mit der Abteilung „kräftiges Austeilen“: Die erste Single des neuen Tocotronic-Albums ist der mit Abstand schlechteste Song der mir bekannten Bandvergangenheit.
Ein stumpfer Beat bleibt – selbst wenn er ironisch gemeint ist – ein stumpfer Beat. Am witzigen, seichtpoppigen Erdmöbel-Coveralbum no. 1 hits kann man das exzellent nachvollziehen: Wem bitteschön geht die Hälfte der Songs nach fünfmaligem Hören nicht auf den Nerv? Und genauso ist es mit Tocotronics Macht es nicht selbst. Das ist nicht eingängig sondern eintönig à la Die Toten Hosen. Deshalb habe ich dem neuen Tocotronic-Album mit Argwohn entgegen geblickt – völlig unnötig.
Schall und Wahn ist das beste Album der Band seit dem selbstbetitelten „weißen Album“ aus dem Jahr 2002.
Nach dem eher punkrockigen, rückwärtsgewandten Kapitulation (2007) greifen die Herren um Dirk von Lowtzow tief in die Innovationskiste und fördern mehrstimmige Refrains, Streicher und – endlich wieder – lange, unaufgeregte Gitarrenpassagen zutage.
Und überhaupt ist das Album ruhiger geworden. Der wundervoll geraunte Opener Eure Liebe tötet mich und Das Blut an meinen Händen weisen den Weg, doch nichts reicht an den Folk(!)-Song Im Zweifel für den Zweifel heran. In viereinhalb Minuten erfinden sich Tocotronic neu, geben einen Ausblick auf künftige Perspektiven und sind so anrührend wie noch nie:
Im Zweifel für den Zweifel
Das Zaudern und den Zorn
Im Zweifel fürs Zerreißen
Der eigenen Uniform
Im Zweifel für die Bitterkeit
Und meine heißen Tränen
Ganz ohne Zweifel agieren dagegen Get Well Soon. Vexations soll ein ganz großer Wurf sein: Grandezza allenthalben, pompös bis zum geht nicht mehr und dabei – leider – völlig humorfrei. Das ist ganz nett, kommt aber bei der sehr ausgedehnten Länge des Albums mit zu wenig wirklich großartigen Songs daher. Wer Morricone-Trommeln, -Chöre und –Trompeten hervorholt, sollte Sergio Leone heißen oder lieber die Finger davon lassen.
Das kann Get Well Soon-Chef Konstantin Gropper besser als hier, deshalb sollte man lieber zum Debüt Rest now, weary head, you will get well soon greifen.
Damit wäre mal wieder deutlich geworden, wie schwierig das zweite Album sein kann, wenn das erste zum Meisterwerk ausgerufen wurde. Mit dieser Bürde haben auch Vampire Weekend zu kämpfen, die sich nicht für größer, breiter, ambitionierter entschieden haben sondern für verrückter.
Die erste Single Cousins ist ein Gitarrenwahnsinn, der auch die ruhigsten Trantüten in ADS-gefährdete Zappelphillips (Phillipe?) verwandelt. Allein um zu schauen, ob sie das live auch so zackig hinkriegen, müsste man zum nächsten Konzert gehen.
Contra ist im Vergleich zum Vorgänger variantenreicher, dafür aber auch zerfahrener. Eine wandelnde Ohrwurmgefahr sind Vampire Weekend aber immer noch, wie Tracks wie Horchata oder Run schnell beweisen. Contra ist keine Platte des Jahres, aber ein Spaß, den man nicht missen sollte.
Platten des Jahres produzieren die Tindersticks seit zehn Jahren nicht mehr, doch das ist nicht unbedingt ein Makel. Nach den elegischen, durchdesignten ersten drei Alben wird Stuart A. Staples immer mehr zum richtigen Songwriter, und darin liegt die neue Stärke der Band: Nicht mehr die Atmosphäre eines ganzen Albums macht den Zauber der Tindersticks aus sondern einzelne Songperlen, und das sind nicht mehr nur traurige Balladen sondern immer mehr – hüstel – Popsongs. Ja, richtig gehört.
Harmony around my table ist ein Beispiel dafür, mit geklatschtem Rhythmus und „Lalala“-Chören im Refrain. Das mag naiv oder gar abgedroschen klingen, ist es aber nicht. Denn die Tindersticks haben mittlerweile einen besonderen, Belle and Sebastian-ähnlichen Swing entwickelt, der die eigenen Füße unwillkürlich zum Wippen bringt. Das Gleiche gilt für die erste Single Black Smoke:
Auch die Experimentierlaune ist mit Falling down a mountain zurückgekehrt: Das Album wird mit dem ausgedehnten, jazzigen Titelsong eingeleitet und beendet mit einem an die Filmmusik-Erfahrungen der Tindersticks erinnernden Instrumental. Laut Stuart Staples hat die Band Lust auf mehr und gewagtere Entwicklungen, man kann also gespannt sein. Doch bis dahin: Falling down a mountain kaufen und hören!
Bevor man das jedoch macht, gibt es einen anderen Pflichtkauf: Das neue Midlake-Album The courage of others ist das perfekte Album für den Winter. Und den Frühling. Und den Herbst. Und – man kann es vielleicht erraten – auch für den Sommer. Was die Waldkäuze hier abliefern ist große Albumkunst, womit mal wieder ein Beispiel gegen die These, das Album stürbe aus, gefunden wäre.
Schon der erste Song Acts of man führt in eine längst vergangene Zauberwelt, in der sich nicht nur Fuchs und Hase eine gute Nacht wünschen. Zwei deutliche Veränderungen gibt es gegenüber dem Vorgänger The trials of Van Occupanther. Was Midlake mit ihren Gitarren anstellen, ist von einer Spielfreude geprägt, die einen immer wieder fesseln kann. Am meisten überrascht jedoch das daneben dominanteste und wohl untypischste Indie-Rock-Instrument: Die Querflöte. Sie hält nicht nur das ganze Album zusammen, sondern verleiht The courage of others auch einen eigenen, unver-wechselbaren Charakter.
Einzelne Songs herauszuheben lohnt sich eigentlich nicht, da das Album als Ganzes am besten funktioniert, doch sei an dieser Stelle besonders auf das Duett Bring down mit der amerikanischen Songwriterin Stephanie Dosen hingewiesen. Wen das nicht packt, den packt nichts.
Was kann nach so einem grandiosen Januar noch kommen? Klar, der Februar, und der wartet mit einer unerwarteten Nachricht auf:
Joanna Newsom ist zurück. Vier Jahre nach dem allseits zurecht gefeierten Ys kommt das neue Album Have one on me raus. Als 3 CD/LP-Box. Man höre und staune…
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