Sonntag, 15. Januar 2012
Zehn Alben aus 2011.

Der tontraegerhoerer ist zurück und hat etwas mitgebracht: Die Jahresabschlusslisten! Festzuhalten ist: 2011 war eindeutig ein Frauenjahr.

2011 war kein gutes Jahr für klassische Populärmusik-Formationen a.k.a. Bands. The Strokes versuchten sich mit einem bis auf den starken Opener Machu Picchu eher halbgaren Album, während Coldplay neben eineinhalb gelungenen Songs vor allem mit einem unfassbar grauenhaften "feat. Rihanna"-Duett aufwarteten. Was sich Noel Gallagher mit seinen High Flying Birds gedacht hat, weiß wohl nur Noel Gallagher selbst. Und in hiesigen Landen? Nichts Neues von Element of Crime, Tocotronic oder den Sternen, und danach kommt ja eh nur der Stadionrock oder die Zweitklassigkeit. Bis auf Ja, Panik, sagen manche. Dass dieser Mischmasch aus prätentiösen Denglisch-Texten und unmotiviert pluckernden Melodien das beste, deutschsprachige Album mindestens seit Digital ist besser sein soll, ist fast so lustig, wie Coldplays Rihanna-Duett: gar nicht.
Wenn das vergangene Jahr also keines für Bands war, folgt im Umkehrschluss daraus: 2011 gehörte den Solokünstlern. Verzeihung, tontraegerhoerer korrigiert sich: Den Solokünstlerinnen. Hätten Chan Marshall/Cat Power und Joanna Newsom sich entschlossen, letztes Jahr auch noch ein Album zu veröffentlichen, wären alle weiblichen Songwriter der Extraklasse zusammengekommen: Feist, Laura Marling, Lykke Li, die frische Anna Calvi sowie die leibhaftige Kate Bush. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Herren des Musikgeschäfts sich über ein selbstverständliches Comeback in diesem Jahr freuen könnten: Mit Lana Del Rey schickt sich nicht nur eine vielversprechende Newcomerin an, den Thron im Pop-Himmel zu erobern, sondern auch die Godmother des Pop ist zurück und bringt hoffentlich ein besseres, neues Album mit: Madonna, make the people come together!


2011 – Die Alben

10. Lykke Li – Wounded Rhymes



Den Lady Gaga-Hype würde ich nur verstehen, wenn er um Lykke Li gemacht würde: Perfekter, teilweise verstörender Pop von leise (I Know Places) bis laut (Get Some), ein cineastisches, ergreifendes Musikvideo mit Stellan Skarsgård zu Sadness Is A Blessing und wagemutige Kostüme. Wer ist Lady Gaga?

Bester Song: Sadness Is A Blessing, zum Niederknien.


09. PJ Harvey – Let England Shake



Was ist über dieses Album nicht alles geschrieben worden? Kaum eine Bestenliste, die Let England Shake nicht unter den besten drei Veröffentlichungen platziert hat, und ich kann nur sagen: Endlich. Endlich wieder ein PJ Harvey-Album, das nicht wie Stories from the City, Stories from the Sea (2000) den Hits die Atmosphäre des Albums opfert oder umgekehrt verfährt wie White Chalk (2007). Endlich sitzt jeder Song an seiner richtigen Stille, endlich stimmt die Mischung aus Exaltiertheit und Einkehr und endlich trifft Polly Jean Harvey das richtige Thema zur richtigen Zeit.

Bester Song: The Words That Maketh Murder. Dem ist nichts hinzuzufügen.


08. Wilco – The Whole Love



Wenn immer wieder das Gleiche geschieht, wird einem schnell langweilig. Zum Glück setzen Wilco diese Regel außer Kraft: Jedes neue Album der Band wird schleunigst als das bisher vortrefflichste identifiziert, findet sich in jeder Kritiker-Top Ten wieder und definiert den Standard des Indierock. Und all das lassen Wilco jedes Mal aufs Neue so einfach aussehen. Beneidenswert.

Bester Song: Das reißende Monster Art of Almost



07. Fleet Foxes – Helplessness Blues



Der erste Gedanke, der mir beim ersten Hören von Helplessness Blues in den Kopf kam, war: Was wurde das Debütalbum der Fleet Foxes doch überschätzt. Denn erst auf ihrem zweiten Album zeigt die Band, wozu sie tatsächlich in der Lage ist, wie vielschichtig und zugleich leichtfüßig nicht nur ihr Gesang, sondern die gesamte Instrumentierung sein kann. Der Swing von Bedouin Dress und das sich immer weiter hochschaukelnde Titelstück offerieren eine ganz neue Bandbreite.

Bester Song: In der Mitte, Harmonien, die Brian Wilson zum Weinen bringen würden: The Plains/Bitter Dancer


06. Anna Calvi – Anna Calvi



Auch wenn Adele mit Rolling in the Deep 2011 den wohl größten Ohrwurm erschaffen hat, enttäuschte ihr zweites Album 21 durch die arg charttauglichen Songs. Und auch den inoffiziellen Titel "Stimme des Jahres" musste sie einer Neuentdeckung überlassen. Was Anna Calvi auf ihrem Debütalbum anstellt, ist streckenweise unbegreiflich. Wo Adele der Versuchung erliegt, ihre Stimmgewalt ständig vor sich herzutragen, macht Calvi alles richtig. Sie wispert und wirbt um die Aufmerksamkeit der Zuhörer, um sie dann stimmlich zu erschlagen, ohne jemals die Contenance zu verlieren.

Bester Song: Desire, treibt dringlich auf den Punkt.


05. Laura Marling – A Creature I Don't Know



Wie man drei Alben lang so gut wie alles richtig machen kann, lässt sich gut an Laura Marling beobachten. Die mit XX schon altersweise Songwriterin wartet auf ihrer jüngsten Platte mit einer unfassbaren Dichte guter Songs auf und überrascht mit einer noch umfangreicheren Stimme.

Bester Song: Wie schon bei den ersten beiden Alben, der Opener: The Muse


04. Bill Callahan - Apocalypse


Natürlich klingt die Apokalypse bei Bill Callahan nicht furchterregend oder grauenvoll, sondern bezaubernd und höchstens ein wenig rauer als der Vorgänger Sometimes I Wish We Were an Eagle. Und wenn die Welt durch diese Platte noch untergehen sollte, dann nur, weil sie an der Schönheit ihrer Texte stirbt: Yeah, one thing about this wild, wild country / It takes a strong, strong / It breaks a strong, strong mind / And anything less, anything less / Makes me feel like I'm wasting my time. So zementiert Apocalypse die Vermutung, die man schon lange hegt: Die USA haben momentan keine besseren Singer/Songwriter zu bieten als das ehemalige Traumpaar des Indie-Folk Joanna Newsom + Bill Callahan.

Bester Song: Drover. Episch.


03. Feist - Metals



Endlich hat sich Leslie Feist vom allzu Lieblichen abgewandt. Auf dieser Platte wird man lange nach einem Nachfolger zum dann doch sehr dünnen 1, 2, 3, 4 suchen und nicht fündig werden. Nomen est omen, Metals weist an vielen Stellen eine geradezu metallische Schwere auf, die die Songs zusätzlich zu den schon düsteren Texten mit Bedeutung auflädt. Mal wird das Schlechte im Menschen (The Bad in Each Other), mal die Toten heraufbeschworen (Graveyard), und immer spürt man, dass diese Musik nichts mehr mit Unterhaltung und Werbejingles zu tun hat.

Bester Song: The Bad in Each Other.


02. Radiohead – The King of Limbs



Wenn ein neues Radiohead-Album veröffentlich wird, springt die große Meinungsmaschine an und man kann sich vor gegenläufigen Kritiken nicht mehr retten. Selbstverständlich ist The King of Limbs wahlweise die beste oder schlechteste Radiohead-Platte seit Jahren, im positiven oder negativen Sinne unhörbar und eigentlich eh erst in Jahren wirklich verständlich. Verwunderlich ist nur, dass kein Artikel dieses Jahr das Offensichtliche bemerkt hat: The King of Limbs beschreibt unsere Zeit wie keine andere Veröffentlichung dieses Jahr. Nicht James Blake mit seiner eskapistischen Langsamkeit und auch nicht PJ Harvey mit ihrem Kommentar zur Krise, die vielleicht in den Medien, aber sicherlich in den Köpfen allgegenwärtig ist.
Thom Yorke und seine Mitstreiter liefern dagegen den Soundtrack zur immer kleinteiligeren, sich anscheinend schneller drehenden Welt. So wie Tage heute am besten in Viertelstundeneinheiten geplant, Bildschirme Fenster um Fenster bzw. App um App erweitert, Wohnorte und Jobs am besten alle zwei Jahre gewechselt werden, reihen Radiohead Beat an Beat, klickt und klackert es niemals unorganisiert um einen apathischen Thom Yorke.
Simon Reynolds stellt in seinem vielbeachteten Buch Retromania die Originalität heutiger Popmusik in Frage, die sich angeblich nur an vergangenen Jahrzehnten orientiert. Doch das Leben heute ist ein anderes, Technik und Globalisierung haben es in andere Sphären katapultiert, und The King of Limbs macht dieses Leben hörbar. Und nein, das gab es so noch nicht.

Bester Song: Give up the Ghost. In Schönheit sterben.


01. Kate Bush – 50 Words for Snow



Wenn Radiohead ein neues Album veröffentlichen, erreicht es selbstverständlich automatisch Platz 1 in tontraegerhoerers Bestenliste. Das dachte ich zumindest bis Anfang Dezember, als die Stimme hauchte I was born in a cloud und wie die besungene Schneeflocke vom Himmel fiel. Kate Bush war zurück mit dem ersten, neuen Album (das Remake Director's Cut ausgenommen) seit sechs Jahren und das Warten hat sich gelohnt. Dass sie auf den ersten Blick alles falsch gemacht hat – dieses wohlwollend betrachtet mindestens seltsame Cover, und dann auch noch ein Konzeptalbum über den Winter, all das löst sich auf wie schmelzender Schnee. Auf diesem Album stimmt jeder Ton, entwickeln die Melodien einen Sog, der gleichzeitig Aufmerksamkeit fordert und zum Ausruhen einlädt. Geschichten von unsterblicher Liebe, Schneemannsex, dem Yeti und der schon erwähnten Reise der Schneeflocke sind so liebevoll und pointiert erzählt und instrumentiert, schmiegen sich so leicht ans Ohr und ins Gedächtnis, dass man sich nicht vorstellen kann, sie erst seit Dezember zu kennen. Wenn das Ergebnis ähnlich klingt, warte ich gerne sechs Jahre auf die nächste Kate Bush-Platte.

Bester Song: Das ganze Album in Miniaturform: Snowflake.

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